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Aus dem Archiv: Spinnstube
Heiligenstadt im Eichsfeld
Veröffentlicht von Thomas Schuster in Eichsfeld · Freitag 03 Mai 2024
Tags: Spinnstube
„Die Geselligkeit war vor fünfzig Jahren (um 1880) von anderer Art als heute. In der Jetztzeit spielt sich das gesellige Leben in Vereinen und Klubs ab. Wir alle kennen den Verlauf der Festlichkeiten solcher Vereine und Klubs, und es braucht nicht im einzelnen darauf hingewiesen zu werden.

Vor fünfzig und mehr Jahren wurde die Geselligkeit vorzugsweise in der Familie gepflegt: es waren kleinere Kreise, in denen die Teilnehmer sich näher traten. Ich denke vor allem an die Spinnstuben, wie sie in meiner Jugend vor ungefähr einem halben Jahrhundert in meiner Heimat Großengottern üblich waren.

Oft wurde schon ein paar Wochen vorher dazu eingeladen, und meine Mutter führte genau Buch im „Schwarzburger Kalender“ darüber, damit keine Spinnstube verpaßt wurde. Gegen zwei Uhr nachmittags erschienen die ersten Frauen mit ihren Spinnrädern unterm Arm, und bald folgten die andern, bis die Stube gefüllt war. Meist gehörten nur sechs bis acht dazu, da sie mit ihren Rädern viel Raum brauchten. Alles überflüssige Hausgerät, was leicht zu entfernen war, wie Sofa, kleine Tische, übrige Stühle, wurde entfernt, damit die Frauen, im Halbkreis sitzend, das Rädlein schnurren lassen konnten. Zu den Spinnstuben wurde sich besonders „geputzt“. Auf dem Kopfe thronte die breite, goldbestickte Haube mit langen, in den Rücken fallenden seidenen Bändern, die an den Enden mit Goldfransen besetzt waren. An der Vorderseite der Haube wurde noch ein Tuch getragen, das den Abschluß vor der Stirn bildete und in zwei Zipfeln an der Seite herabhing. Bei trockenem, kalten Wetter zog man eine dicke Plüschjacke an, bei Regen und Schnee den weiten, dunklen Kattunmantel darüber, unter welchem das Spinnrad geschützt war. Eine Anzahl wollener Röcke gab den Frauen eine angemessene Rundung.

Am liebsten trugen die Spinnerinnen ihre Räder offen, damit schon auf der Straße die schönen, buntseidenen Rockenbänder und der kunstvoll ausgewickelte helle Flachs genügend bewundert werden konnte. Der aus Messingblech hergestellte „Netzkessel“ war so blank geputzt, daß er weithin leuchtete. Hatten sich alle Eingeladenen eingefunden, so begann das Kaffeetrinken. Mehrere Teller mit Kuchen und Kräpfeln wurden erst einmal herumgereicht; jede Spinnerin hatte die Pflicht, von jedem Teller ein Stück zu nehmen. Dann legte die Gastgeberin immer wieder jeder zu, so daß neben jeder Tasse ein kleiner Berg Kuchen sich erhob. Was nicht gegessen wurde, wanderte am Schlusse in das mitgebrachte Handkörbchen und war eine willkommene Gabe für die zu Hause harrenden Kinder. Den Unterhaltungsstoff der Spinnerinnen bildeten Tagesneuigkeiten, oft auch Spukgeschichten. Die Dorfangelegenheiten, besonders Familien und Heiratsgeschichten, wurden ganz gründlich durchgenommen, und manchem Dorfbewohner und mancher -bewohnerin wird es böse in den Ohren geklungen haben. Kam die Dämmerung heran, so erfolgte der Aufbruch unter Mitnahme des übriggebliebenen Kuchenberges.

Nun wurde die Stube für den Abend hergerichtet; denn dann erschienen die Frauen wieder und brachten ihre Männer mit. Die Hauben waren abgelegt, und an ihre Stelle waren Kopftücher getreten, die turbanartig um den Kopf geschlungen und geknüpft waren, so daß vom Kopfhaar nichts zu sehen war. Die Spinnräder konnten sich zu Hause ausruhen, denn am Abend wurde nur gestrickt. Das war eine Arbeit, die auch bei weniger guter Beleuchtung geleistet werden konnte. Die Frauen saßen nun näher beieinander, eng um den Tisch herum. Am anderen Tische saßen die Männer, die zu Vieren „Wensch“ oder „Schafskopp“ spielten. Dazu rauchten sie aus mitgebrachten langen oder kurzen Pfeifen nicht immer den besten Tabak. Oft ging es lebhaft zu, namentlich bei der „Leichenrede“ über ein verlorenes Spiel. Ungefähr um zehn Uhr setzte die Vesperpause ein. Teller mit Wurst und Butter wurden aufgetragen; oft wurde auch ein Krug Bier dazu herbeigeschafft, für manchen auch ein Schnäpschen bereit gehalten.

Meist wurde nach dem Essen weitergespielt, oft aber auch bis zum Schluß geplaudert. Wir Kinder durften an den Spinnabenden nicht in der Stube bleiben. Da man meist nur einen Wohnraum hatte, gingen wir an den Abenden zu Freunden, deren Eltern mit zur Spinnstube waren. Um neun Uhr mußten wir zu Hause sein, nahmen auf dem Hausflur noch eine Tasse Kaffee in Empfang, steckten dann den Kopf durch die Tür und wünschten „gute Nacht“ und verschwanden möglichst unauffällig in die Schlafkammer. Zwischen elf und zwölf Uhr war Feierabend. Nachdem für die Bewirtung der Dank ausgesprochen war, trat die Gesellschaft den Heimweg an. Jeder Hausvater trug seine Laterne in der Hand, denn Straßenbeleuchtung kannte man noch nicht, und oft stand der Mondschein auch nur im Kalender.
In den achtziger Jahren hörten die Spinnstuben nach und nach auf. Das Spinnrad wanderte auf den Boden; denn der Flachsbau hörte in unserer Gegend auf, da man die auf Maschinen gewebte Leinwand billiger kaufte, als die selbst verfertigte. An die Stelle der Spinnstuben traten „Kränzchen“, die am Abend nur von Frauen abgehalten wurden. Die Männer gingen während der Zeit in den Verein, der im Wirtshaus seine Sitzung abhielt. Damit verschwand die Poesie der Spinnstuben und mit ihr das Spinnrad, das man hier und da noch in den „guten Stuben“ der Bauernhäuser, wohl gar in den „Salons“ der Stadtdamen antrifft, aber nur ganz wenige von unsern Hausfrauen verstehen noch, es in Bewegung zu setzen.“



Quelle: Der Pflüger Nr. 4 1928 – Bild: Spinnerinnen aus Mühlhäuser Geschichtsblätter


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